In den Zweigen dieses Wunderbaumes war oft ein seltsames Singen und Klingen zu hören. Zu manchen Zeiten saßen fremde goldschimmernde Vögel in dessen Wipfel. Goldene Schätze lagen unter ihm verborgen. Wie es Irrwiurzeln gab, die einen den Weg verhelen ließen, der auf sie getreten, so gingen dem Wanderer, der ermüdet auf seinen Wurzeln eingeschlafen, verheißungsvolle Träume durch den Kopf. So lebte einst ein armer Bauer namens Christoph. Als dieser einmal im Schatten dieses Baumes schlafend ruhte, erschien ihm jener alte Hirte. Er zeigte mit dem Stab ins nahe Bayernland und rief ihm die Worte zu:
„Auf der Regensburger Brück,
da findest du dein Glück“
Den Traum vom Stelzenbaum erzählte Christoph seinen Dorfgenossen. Und weil sie ihn als Stelzen- und Traumchristoph hänselten, machte er sich auf den Weg, um der Sache wirklich nachzuspüren. Bald darauf stieg er die Donaubrücke auf und ab; aber nirgends wollte sich das verheißene Glück zeigen. Da vertraute er sich dem Wirte eines Gasthofs an, der gleichfalls Christoph hieß, aber lahm auf den Beinen war und deshalb mmer Stelzen (Krücken) mit sich führen mußte. Dieser eigentliche Stelzenchristoph konnte ihm zu eriner Überraschung von einem gleichen Traum, aber mit gegenteiligem Ziele berichten. Ihm hatte ein Hirte gesagt:
„Ins Vogtland geh,
nach Stelzen auf die Höh,
grab unterm Stelzenbaum,
dort erfüllt sich dein Traum“(nach Max Benedikt „Der Stelzenbaum und die Stelzenhöhe“ 1911)
Den ältesten schriftlichen Nachweis des Stelzenbaumes finden wir auf einer um 1569 von dem Maler Wolf Meyerpeck herausgegebenen Karte. Auf dieser Karte ist neben dem Ort Stelzen auch der Stelzenbaum eingezeichnet. Einen weiteren interessanten Hinweis finden wir in einer alten Schrift aus dem Fichtelgebirge (Das Teutsche Paradeiss in dem vortrefflichen Fichtelberg, von Magister J. Willen Anno 1692): " von seltenen Wunderbäumen ist auch wenig zu gedenken. Doch verwundern sich etliche über den uralten. großen und starken belaubten Stelzenbaum beym Dorff Stelzen, im Vogtland, welcher seinesgleichen nirgendwo haben soll und von vogtländischen Edelleuten hie bevor besonders beliebt worden, dass sie einander dahin zum Zweykampf (Gottesurteil in Gottesnähe!) ausgefordert, diesen Stelzenbaum ihr rachgieriges Blut geopfert und dadurch iezuweilen, an statt des Kleinode eine hölzerne Stelze. wo nicht gar ein Sarg erworben." Im Jahre 1891 schien ihm eine Gefahr zu drohen, dies beweist ein Gedicht vom Stelzenbaum, das wir einer Überlieferung des ehemaligen Stelzener Lehrers Paul Nenner verdanken.
Der Stelzenbaum spricht:
Düstre Mär ist mir gekommen.
Ist es wahr. was ich vernommen.
Vöglein künd't vom Baum mir jetzt?
Mir. der sich noch jungendhaltig,
Wurzelstark und kerngewaltig.
Wind und Wetter widersetzt.Mir dem hehren Veteranen.
Den gepriesen einst die Ahnen
Als des Gaues Wunderstamm.
Der in schwerer Zeiten Branden
Unerschüttert Wacht gestanden.
Freiheitsstolz auf Bergkamm?Heuer-heuer soll ich enden.
Untergang von Menschenhänden
Droht mir durch des Beiles Schlag.
Ihren Liebling zu erhalten.
Ließen Väter Gnade walten:
Sie verstanden ihren Tag.Schonung fordernd und Erbarmen,
Wehrten sie euch mit den Armen
Gegen eure Brust gedrückt.
Sprächen: "Achtet unser Flehen.
Laß den Recken, laßt ihn stehen.
Bis ein Wetter ihn zerpflückt!
Am 18. März 1897 war der schicksalsschwere Tag des altehrwürdigen Stelzenbaumes angebrochen. Es war abends in der neunten Stunde, als in Stelzen und Umgebung ein furchtbares Unwetter tobte. Blitze durchzuckten die Luft. von gewaltigem Donner begleitet. Dabei erhob sich ein Wirbelsturm, der den Dächern. Hütten, Zäunen und Bäumen übel mitspielte. Diesem Unwetter fiel auch der Alte zum Opfer. Am nächsten Morgen stand nur noch der Stamm da, die Krone lag am Boden. Der Stamm war noch vier Meter hoch und hatte einen Durchmesser von l.50 m. Der Tobertitzer Landwirt und Naturfreund Gottsmann hatte sich aus Samen und Wurzelsprößlingen des Stelzenbaumes kleine Stämmchen gezogen. Eins der Stämmchen schenkte er dem Plauener Touristenverein, der es im Jahre 1898 als Abkömmling vom alten Stelzenbaum auf der Stelzenhöhe neben den Stumpf des ehemaligen Stelzenbaumes pflanzte. Ende der zwanziger Jahre wurde auf dem Stumpf des Stelzenbaumes eine Betonplatte angebracht, um den Stamm der Nachwelt zu erhalten.
Der Stelzenbaum