Titanvogeltage

Lesung

Alles sammeln Himmel und Erde sammeln. Den Tag mit Sammeln beginnen: Wind in die Windmühle. Regen in die Regentonne. Auf den Knick kriechen, dahocken und weitersammeln. Sammeln, was man mit den Augen sammelt, Holunderblüten, Hagebutten, Taubnesseln. Rosen, Tulpen, Nelken. Ebereschen, Pappeln, Rotbuchen, Silberlinden. Kirchtürme, Kumuluswolken, Kondensstreifen. Kühe, Kaninchen, Kinder. Immer weitersammeln. Sammeln, was man mit den Ohren sammelt. Amsel, Drossel, Fink und Star. Dicke Regentropfen, auch Düsenjägerlärm und Ohrgeräusche. Ohren überhaupt. Auch Bienen. Auch Nachbars Rasenmäher. Nicht aufhören mit Sammeln. Sammeln, was man mit der Nase sammelt. Jasmin, Jelängerjelieber, Johanniskraut. Winzige Welpen, winzige Katzenjunge. Alles sammeln. So beginnt Jochen Missfeldts Roman „Gespiegelter Himmel. Titanvogeltage“. Der Autor, Jahrgang 1941, war bis 1982 Flugzeugführer und Staffelkapitän eines Aufklärungsgeschwaders und Pilot einer RF 104G Starfighter. Nach seiner Entlassung studierte er Musikwissenschaft, Philosophie und Volkskunde. Seit 1985 ist Jochen Missfeldt freier Schriftsteller. Er erhielt zahlreiche Preise und Stipendien. Er lebt in Oeversee, ist verheiratet und Vater von drei Töchtern. Alles was Flügel hat, erhebe sich in die Lüfte. Alles, was fliegen kann, fliege hoch. Über zwanzig Jahre lang flog Jochen Missfeldt die großen Maschinenvögel; war seine Hauptperspektive die Vogelperspektive – seine tägliche Wahrnehmung von Landschaft jene, die man selbst eher selten erlebt. Alltäglich für ihn: Das sich Loslösen von der Erdoberfläche, das Streben in den unendlichen Himmel. Immer wieder nahm er auch das Angstgefühl in Kauf, dass nach dem kraftvollen Aufsteigen ein kraftloses Abstürzen folgen könnte. Fliegen als Arbeit. Fliegen mit dem Titanvogel, den Himmel als Arbeitsplatz. Solche Erfahrungen verlangten eines Tages nach literarischer Verarbeitung. Jochen Missfeldt schrieb seinen Roman 1985, nur wenige Jahre nach seinem Ausscheiden als Flieger. Vermisst er den Himmel? Hat er einen anderen Blick auf ihn und auf sein Darunter? Wie sehnsuchtsvoll schaut ein Flugkapitän den Vögeln hinterher - den kleinen gefiederten und den großen aus Aluminium und Stahl? Er wird uns davon erzählen.

Textauszug aus: Jochen Missfeldt „Gespiegelter Himmel. Titanvogeltage“ Copyright © 2001 by Alexander Fest Verlag, Berlin ersch. Als Hardcover und Taschenbuch (rororo

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Scheune am Hang
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